Die ZEIT hat vor zwei Monaten einen Wettbewerb "Politischer Essay" ausgeschrieben. Welche Wahl lässt uns die Krise? Das sollte das Thema sein. Die von der ZEIT-Jury ausgewählten Beiträge sind unter www.zeit.de/leser-essay nachzulesen.
Welche Wahl lässt uns die Krise?
Von Hanspeter Knirsch
Nach der Krise ist vor der Krise. Sepp Herbergers Trainerweisheit scheint auch für den Verlauf des internationalen Krisenszenarios zuzutreffen. Erst die Immobilienkrise, dann die Bankenkrise in den USA, von der man am Anfang noch glaubte, sie sei ein amerikanisches Problem, das die Amerikaner gefälligst alleine zu lösen hätten. Dann die internationale Bankenkrise und die Krise der Realwirtschaft – und was kommt als Nächstes? Es ist naheliegend, an die Staaten und ihre Haushalte zu denken, die sich in einem nie gewesenen Umfang verschuldet haben, um mit diesem geliehenen Geld den Banken und Versicherungsunternehmen aus der Krise zu helfen. Folgt also demnächst die Staatenkrise? Die EU-Maastricht-Kriterien sind de facto außer Kraft gesetzt. Angesichts der ersten Anzeichen einer Erholung der Weltwirtschaft sind die kritischen Stimmen an der Beelzebub-Methode fast verstummt. Die künftige Handlungsfähigkeit des Staates? Im Wahlkampf kein Thema.
Wir erinnern uns – das seit Jahrzehnten andauernde Leistungsbilanzdefizit der USA und die unendliche Aufblähung der Kreditwirtschaft haben die Immobilienblase erzeugt, die vor zwei Jahren geplatzt ist und die Weltwirtschaft in einen Abwärtsstrudel gerissen hat. Mehr zu konsumieren als man an Werten schafft, hat auf Dauer noch nie funktioniert. Vor den Lohn haben die Götter den Schweiß gesetzt. Schon vor der Krise, als Peer Steinbrück noch von einem ausgeglichenen Bundeshaushalt 2010/2011 schwärmte, hatte die Staatsverschuldung ohne die in Bundes- und Länderhaushalten nicht bilanzierten Pensionsverpflichtungen für Beamte die Marke von 1, 5 Billionen EUR überschritten. Eine Billion ist eine Eins mit zwölf Nullen. Prof. Meinhard Miegel hat bereits 2004 ausgerechnet, dass Bund, Länder und Kommunen 30 Jahre brauchen würden, um sich zu entschulden, wenn jeden Tag 500 Millionen Schulden getilgt würden. Das Gegenteil ist jedoch bis zur Krise und in der Krise passiert. Die öffentlichen Schulden wachsen weiter – und zwar schneller denn je und ohne die Schaffung neuer Werte. Nach der Krise ist vor der Krise. Städte und Gemeinden, die sich nicht unendlich verschulden dürfen, weil sie unter Staatsaufsicht stehen, werden die ersten sein, denen die Luft ausgeht. Von einem staatlichen Schutzschirm für notleidende Kommunen wird bereits geredet. Da soll der Blinde dem Lahmen aus der Patsche helfen.
Welche Wahl lässt uns die Krise? Eine Schuldenbremse ins Grundgesetz zu schreiben, ist ungefähr genauso unsinnig wie das Versprechen nach den Bundestagswahlen die Steuern zu senken oder Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2020 zu schaffen. Die Politik lässt uns also am 27. September scheinbar keine große Wahl. Wahlenthaltung wäre gleichwohl die falsche Konsequenz, wenngleich legitim, erst recht legal – und so sollte es bleiben. Es gibt noch genügend Unterschiede zwischen den Volksparteien und ihren Kandidatinnen und Kandidaten, die eine Differenzierung rechtfertigen. Zur Wahl zu gehen ist eine notwendige aber keine hinreichende Antwort auf die Krise. Obama betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass nicht er die Krise überwinden könnte sondern nur das ganze amerikanische Volk. Und man glaubt es ihm. Auch weil seine Frau Michelle im Garten des Weißen Hauses Salat anpflanzt, also symbolträchtig Werte schafft. Ob die in der Wirtschaft Verantwortlichen verstanden haben, dass die Ära der unbegrenzten Kreditexpansion beendet ist, wird sich zeigen. Politik muss von den Bürgerinnen und Bürgern ermuntert werden, die Krise zum Anlass zu nehmen, dem Prinzip Nachhaltigkeit durchgehend Geltung zu verschaffen. Also keine neuen Polemiken gegen die Politik, sondern Einmischung.
Statt einer komplizierten und mit Ausnahmenregelungen versehenen Schuldenbremse gehört neben dem Demokratieprinzip, dem Sozialstaatsprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip das Nachhaltigkeitsprinzip als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz. Daran ließe sich staatliches Handeln auf allen Ebenen und in allen Handlungsfeldern messen – in den meisten kommunalen Haushalten dank Umstellung auf kaufmännisches Rechnungswesen bereits heute realisierbar. Kommunale Bilanzen machen Vermögensverzehr, das Gegenteil von Nachhaltigkeit, unmittelbar sichtbar. Was in der Umweltpolitik allmählich zumindest theoretisch zum Allgemeingut geworden ist, sollte sich für jedes öffentliche Handeln durchsetzen.
Welche Wahl lässt uns die Krise? Keine andere als die Rückkehr zum Prinzip der Nachhaltigkeit, das seit dem Beginn der industriellen Revolution in allen Bereichen und mit zunehmender Geschwindigkeit verlassen worden ist. Zugegeben, ein bisschen klingt das nach dem Luther zugeschrieben Apfelbäumchenzitat. Und wenn ich denn wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich doch heute ein Apfelbäumchen pflanzen. Aber welche andere Wahl lässt uns die Krise?
13. 08. 2009